ANALYSE
Prof. Dr. Urich Oevermann
28.02.1940 - 11.10.2021
Analyse mittels der Objektiven Hermeneutik
Die Objektive Hermeneutik ist die Methode, mit der in der Familiensystemdiagnostik Erkenntnisse gewonnen werden. Ich lernte Oevermann und seine Arbeit vor ca. 25 Jahren kennen. Seine neue "soziologische Schule" war und ist bahnbrechend und einzigartig, um sinnverstehend Zusammenhänge zu erfassen. Oervermann selbst verlor an seinem Schlüsselinstrument der Sequenzanalyse nie seine Begeisterung, was wohl u. a. daran liegt, dass diese dem realen Prozess des Lebens folgt, vielmehr noch, diesem entspricht.
Ich danke diesem großartigen Menschen von ganzen Herzen für sein Lebenswerk, mit dem er soviel Verstehen in die Welt gebracht hat.
Die Objektive Hermeneutik ist seit über 40Jahren d i e Methode, um gesellschaftliche
Themen und Fragestellungen zu analysieren.
Für den diagnostisch- und sozialtherapeutischen Bereich liegt hiermit ein Konzept vor, dass mittels
Sequenzanalyse Ihren Lebenshintergrund in Raum und Zeit erschließt. Auf dieser Grundlage lassen sich Ihre persönlichen "Spuren" nachzeichnen. Nicht nur Ihre bewussten Entscheidungen werden sinnverstehend rekonstruiert, sondern vorbewusste Anteile werden deutlich. So kann Ihr Leben jenseits von Zufälligkeiten begriffen werden.
Ihr "Lebensmuster" wird objektiv analysiert und ermöglicht Ihnen nun Selbsterkenntnis, Annahme
und/oder Veränderung.
Latente Sinnstrukturen resp. objektive Bedeutungsmuster sind das Archiv des Selbstheilungsmaterials. Einsicht in Sinnzusammenhänge ist die Bedingung für Transformation, um auf der subjektiven Ebene Authentizität herstellen zu können. Durch die Rekonstruktion von Möglichkeiten werden weitere Lösungswege erschlossen (statt Bekanntes aufgezählt). Therapeutische und supervisorische Prozesse wären im Erfolgsfalle als systematisch induzierte Transformationen von Fallstrukturgesetzlichkeiten anzusehen.
Die Objektive Hermeneutik ist nicht eine Methode des Verstehens im Sinne eines Nachvollzugs subjektiver Dispositionen oder der Übernahme von subjektiven Perspektiven des Untersuchungsgegenstandes, erst recht nicht eine Methode des Sich-Einfühlens, sondern eine strikt analytische in sich objektive Methode der lückenlosen Erschließung und Rekonstruktion von objektiven Sinn- und Bedeutungsstrukturen.
Die Sequenzanalyse geht von der elementaren Feststellung aus, dass alle Erscheinungsformen von humaner Praxis durch Sequenziertheit strukturiert bzw. konstituiert sind. Jegliches Handeln ist qua Regelerzeugtheit soziales Handeln und geht auf eine sinnlogische Grund-Folge-Beziehung zurück. Regelerzeugung bedeutet in sich Sequenzierung. Jedes scheinbare Einzel-Handeln ist sequentiell im Sinne wohlgeformter, regelhafter Verknüpfung an ein vorausgehendes Handeln angeschlossen worden und eröffnet seinerseits einen Spielraum für wohlgeformte, regelmäßige Anschlüsse. An jeder Sequenzstelle eines Handlungsverlaufs wird
- aus den Anschlußmöglichkeiten, die regelmäßig durch die vorausgehenden Sequenzstellen eröffnet wurden, eine schließende Auswahl getroffen und andererseits
- ein Spielraum zukünftiger Anschlußmöglichkeiten eröffnet.
Die Sequenzanalyse ruft an jeder Sequenzstelle, die Grundstruktur von krisenhafter Entscheidung in Erinnerung, selbst dort, wo sie dem Subjekt aufgrund greifender Routinen nicht zu Bewußtsein kommt. Sie bringt also beständig den grundsätzlich krisenhaften Prozess der Reproduktion und Transformation von Lebenspraxis und von Geschichtlichkeit überhaupt zum Vorschein.
Jede Sequenzstelle wird als potentiell krisenhafte Entscheidungsstelle gesehen, weil sich an jeder Sequenzstelle eine Zukunft von Möglichkeiten öffnet. Ist es im alltäglichen Lebensvollzug so, dass die Routine der Normalfall und die Krisensituation der Grenzfall ist, so ist es in der objektiven Hermeneutik notwendig, die Krise kategorial zum Normalfall und die Routine zum Grenzfall zu machen. Krisenhafte Entscheidungssituationen durchziehen unser Leben, z. B. Heirat oder Elternschaft: Würde Ihr Mann Sie fragen, warum Sie ihn einst heirateten und Sie antworteten aus Routine, so wäre die Situation spätestens jetzt als Krise zu bezeichnen.
Die Routine geht aus der Krisenlösung hervor, sofern diese sich bewährt hat. Demgegenüber bedeutet die Krise die Öffnung, das Aufbrechen einer Routine. Das Subjekt als Subjekt, die Subjektivität als Subjektivität, die Praxis als Praxis kommt in ihrer jeweiligen Autonomie und Einzigartigkeit erst zu sich selbst unter der Bedingung der Krise. Unter den Bedingungen der erfolgreichen Routine, der glatt ablaufenden Handlung verdampft das Subjekt in der Objektivität der Allgemeinheit und externen Gesetzmäßigkeit.
Indem nun die Sequenzanalyse in dieser Betrachtungsweise jede Sequenzstelle als Stelle einer potentiellen Krise behandelt, zeichnet sie den realen Ablauf des praktischen Lebens als je fallspezifische Gesetzmäßigkeit nach. Solange eine konkrete Lebenspraxis sich routinisiert verhält, reproduziert sie ihre eingespielte Lebensgesetzlichkeit bzw. ihre Identität und Charakteristik. Erst wenn sie sich in einer manifesten Krisensituation befindet transformiert sie ihre Ablaufgesetzlichkeit und verändert ihre Struktur. Aber in beiden Fällen handelt es sich um Prozesse, also um dynamische und nicht um statische Erscheinungen.
Damit die wissenschaftlich begründete Krisenlösung zur Anwendung gebracht werden kann, muss zuvor der konkrete Fall in seiner Dialektik von Allgemeinheit und Besonderheit, in seiner Fallstukturgesetzlichkeit erschlossen sein. Die Familiensystemanalyse vereinigt diese beiden wissenschaftlich nicht zur Rechnung zu bringenden Komponenten: die prinzipiell formalisierbare verallgemeinerte Problemlösung und die fallverstehende Rekonstruktion der Krisenkonstellation in sich und wird beiden gleichermaßen gerecht.
Das gilt nun aber keineswegs nur für die diagnostische Einsicht in die fallspezifische Krisenkonstellation, sondern erst recht für die daraus folgende Interventionspraxis in einem Arbeitsbündnis mit dem Klienten. Dieses Arbeitsbündnis lebt aber vor allem vom gegenseitigen Respekt und Achtung, als Basis zur Freisetzung von Selbstheitungskräften . Diese Rückbindung der Interventionspraxis an die Selbstheilungkräfte des Klienten erfordert eine ständige dosierte, krisenhafte Auflösung von Routinen und eine ständige begleitende rekonstruktive Einsicht in die je aktuelle Krisensituation.
Indem die Fallrekonstruktion die Krise als Normalfall untersucht, eignet sie sich ebenfalls besonders für die klinische und pädagogische Praxis. Denn in jeder professionalisierten bzw. professionalisierungsbedürftigen Handlungspraxis geht es letztlich um stellvertretende Krisenbewältigung für den Klienten.
Wenn man hinreichend detailliert die Sequenzanalyse betreibt, gelangt man rasch zu dem Punkt, wo sich eine wiedererkennbare fallspezifische Struktur konturiert hat, so daß eine erste Fallstrukturhypothese formulierbar ist. Wir gelangen zu ihr, wie wir dem realen Prozeß der Reproduktion einer Fallstruktur gefolgt sind. Struktur und Prozeß lassen sich also gar nicht mehr unterscheiden.